Überraschendes im Goldenen Saal
Das habe ich schon lange nicht mehr getan. Mich an einem schönen Herbstabend, der eigentlich noch einmal zum Draußenbleiben animieren würde, in den feinen Zwirn werfen. Zum Augsburger Rathaus gehen.
Mich vor dem Eingang in eine Schlange Wartender stellen, um mich für eine politische Veranstaltung zu registrieren. Hinaufgehen über die breite Treppe in den Goldenen Saal, am Oberen Fletz mit den Sitzungssälen vorbei. Den Pracht-Schock verdauen, der einen immer wieder flasht, wenn die pompöse
Kulisse des 1985 —zur 2000-Jahr-Feier Augsburgs — wiederhergestellten Goldenen Saales im Bau des Elias Holl langsam auftaucht. Einen Platz suchen. Zuhören. Mit ein paar Bekannten sprechen. Und das
Haus mit neuen Erkenntnissen schließlich wieder verlassen.
Zusammengenommen habe ich viele Jahre meines Journalistenlebens im Augsburger Rathaus verbracht, habe tageweise Stadtrats-, Ausschuss- und Zweckverbandssitzung verfolgt und darüber berichtet. Die
Entstehung und das Scheitern von Plänen und Projekten in meiner Heimatstadt beobachtet, politische Entwicklungen und politische Intrigen erlebt. Einige wichtige — und viele unwichtige — Politiker
kommen und auch wieder abtreten sehen.
Und gestern, am 27. September 2018, bin ich mal zurückgekommen an den früheren Wirkungsort. Der Anlass war interessant genug: Mitten in einer ereignisreichen Zeit, in der schon von der
„Kanzlerinnendämmerung“ geschrieben wurde, war Bundeskanzlerin Angela Merkel Gast von Chefredakteur Gregor Peter Schmitz bei der Veranstaltungsreihe „Augsburger Allgemeine live“.
Wer in den letzten Wochen die Berichterstattung über Seehofers Sticheleien, sächsische Querschüsse, Kauders Abwahl usw. usf. in den Medien verfolgt hatte, erwartete vermutlich eine eher
angespannte Politikerin. Zur Überraschung vieler war das glatte Gegenteil der Fall. Merkel war gelöst, schlagfertig, witzig, menschlich auch. Das fing schon bei der Eingangsfrage an, die nicht
politisch war, sondern die an diesem Tag erfolgte Vergabe der
Fußball-EM 2024 nach Deutschland zum Thema hatte. Merkels Antwort durfte man später dann sogar in den ARD-Tagesthemen noch einmal in Ruhe hören. Und das Logo der Augsburger Allgemeinen im
Hintergrund sehen. Marketing at its best!
Es folgt ein bunter Strauß an Themen und (gut gestellten) Fragen, die Merkel routiniert, witzig, menschlich, schlagfertig und manchmal nachsichtig pariert. Amtsmüdigkeit sieht anders aus. Was
einen fast zwangsläufig zu der Frage führt, woher man denn den persönlichen Eindruck einer „Kanzlerinnendämmerung“ hat. Denn: Die Frau will weitermachen, und wer sie so gehört hat gestern Abend, der mag sich des Gefühls nicht erwehren, dass das auch so eintreffen
könnte.
Um mal ein bisschen zu spekulieren: „Die Medien“ werden wohl dafür verantwortlich sein, die ihre Informationen immer schneller, in immer kleineren
Häppchen gehetzt unters Volk werfen. Was dabei unter die Räder kommt? Ein zutreffender Eindruck vom großen Ganzen. Zehn Meinungsverschiedenheiten politischer Partner machen noch keine
Koalitionskrise, ein Seehofer keinen Kanzlerinnensturz, ein Populistensachse mit CDU-Parteibuch keine Politikwende.
Gut, dass es Gelegenheiten wie die gestrige gibt, um fremderworbene Eindrücke am persönlichen Erleben zu messen. Und gut auch, wenn solche Abende eine Nachberichterstattung bekommen, die nicht
Sofortismus und Skandalisierung huldigen. Michael Stifter, der Politikchef meiner Lieblingszeitung,
ist heute wohltuend nahe dran an der wünschenswerten Gesamtschau.
Das Aufregen können nun ja andere übernehmen. Möge der Shitstorm beginnen!
Fortsetzung folgt.