Zweitgeburtstag

 Ciao La Morra! In der Vinothek „Wine not?“ von Paola Brosow.
Ciao La Morra! In der Vinothek „Wine not?“ von Paola Brosow.

Fünf geschenkte Jahre

2018, das jetzt dem Ende zustrebt, war ein denkwürdiges Jahr. Das ist schnell dahingeschrieben, wenn man eine „magische“ Grenze erreicht wie den 60. Geburtstag, den ich heuer im April feiern konnte. Wenn dann noch ein zweites, rundes Jubiläum dazukommt, wird aus dem „denkwürdig“ gleich ein „nachdenkwürdig“. Man ist versucht, Bilanz zu ziehen— über Veränderungen, Entwicklungen, Ereignisse. Unddies vielleicht auch vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass die Halbzeit eines Lebens schon hinter einem liegt.
Nun denn: Heute, am 29. November 2018, jährt sich zum fünften Mal ein Ereignis, das alles verändert hat. Es hat mich nämlich umgehauen, damals vor fünf Jahren, und nur einem ganzen Sack voller glücklicher Zufälle ist es zu danken, dass ich Ventrikeleinbruch und Hirnblutung, die mich am Arbeitsplatz in Landsberg ereilten, weitgehend unbeschadet überlebt habe. Doch darum soll es hier nicht gehen, das habe ich schon einmal hier für „meine“ Zeitung aufgeschrieben und viele, viele beeindruckende Reaktionen darauf bekommen.
Schon vor meiner Erkrankung hatte ich, damals noch unter vielen Zweifeln und mit ehrgeizigen Plänen im Hintergrund, ein äußerst großzügiges Altersteilzeitangebot meines Arbeitgebers angenommen. Die dreijährige „Aktivphase“ sollte am 1. Mai 2014 beginnen. Merkwürdigerweise stand dieses Datum vor allem während der herausfordernden Reha in der Fachklinik Ichenhausen immer vor meinem geistigen Auge, und ich zähle es zu den größten Leistungen meines Lebens, an diesem Tag tatsächlich in Vollzeit an meinen Redaktionsschreibtisch zurückgekehrt zu sein.
Zu den einschneidendsten Folgen einer schweren Krankheit gehört ein grundlegender Perspektivwechsel. Wir alle stecken in unseren Ansichten fest, diskutieren mit Freunden und in sozialen Netzwerken über Themen, die wir als wichtig erachten. Aber wenn der Tod schon einmal angeklopft hat, werden die Prioritäten bei der Beantwortung der Frage „Ist es wichtig? Betrifft es mich wirklich?“ neu gesetzt. Viele Aufgeregtheiten, die heute durchs globale Dorf getrieben werden, tragen aus der Perspektive des Überlebthabenden das Etikett „weitgehend irrelevant“. Das sind, zugegeben, nicht die optimalen Voraussetzungen, um einen Journalistenjob zu machen, in dem man sich ja (auch) der Probleme anderer annehmen soll. Ich denke, dass ich in meinen drei letzten Berufsjahren wahrscheinlich mehr „Altersmilde“ gezeigt habe, als dem Produkt zuträglich war. Es waren vor allem meine nachsichtigen Kollegen, die meine Defizite ausgleichen mussten, wofür ich auch nach Jahren noch dankbar bin.
Aber irgendwann war dann auch die Sache mit dem Beruf Vergangenheit. Meine Kollegen bereiteten mir einen phänomenalen Abschied im Landsberger Stadttheater. An jenem Abend wurde dann auch bekanntgegeben, dass meine langjährige Stellvertreterin Alexandra Lutzenberger meine Nachfolgerin werden würde. Für mich war das der späte Lohn für die nie bereute Entscheidung, sie fast zwei Jahrzehnte davor gegen viele Widerstände zu meiner Stellvertreterin gemacht zu haben.
Gleich am Tag nach der Abschiedsfeier starteten wir, noch von Landsberg aus, zur Weinmesse vinitaly nach Verona. Eine symbolische Reise, denn ich hatte mir vorgenommen, im Ruhestand in die (großen, sehr großen) Fußstapfen meines im August 2016 verstorbenen Freundes Medardus Wallner zu treten. Um es gleich zu gestehen: Aus den Weinhandelsplänen ist nichts geworden. Die Digitalisierung der Welt findet eben nicht nur im Journalismus statt, sondern auch in der Weinwelt. Da ist für mich kleinen Fisch kein Platz, was mich aber nicht davon abgehalten hat, weiter guten Wein zu trinken und zu kaufen und mein Weinwissen zu erweitern. War also ein Fehlversuch. Aber interessant.
Andere Projekte und Aufgaben verliefen positiver. Viele Fast- und Neu-Ruheständler fürchten ja, ohne den sinnstiftenden Job in ein tiefes Loch  zu fallen. Dieser Effekt ist bei mir ausgeblieben. Ich habe mich noch keine Sekunde gelangweilt, seit ich meinen Redaktions-PC abgeschaltet habe. 
Dafür sorgen ein paar Aufgaben, die mir Spaß machen. Da ist zum einen das Kochen, und damit meine ich nicht das tägliche Verwöhnen meiner Frau, die ja noch ein paar Jahre Redaktionsarbeit vor sich hat. Vielmehr habe ich verschüttetes Kochwissen aktiviert und koche einmal im Monat zusammen mit einem tollen Team von ehrenamtlichen Helfern in der evangelischen Pfarrei St. Thomas in Augsburg ein mehrgängiges Menü für bis zu 100 Personen. Was mich zugegebenermaßen regelmäßig an die körperliche Belastungsgrenze führt. Ein Menütag fordert mich drei Tage lang — mit Planung, Einkauf, Vorbereitungen. Nach dem Prinzip „regional und saisonal“ wird  im schön dekorierten Pfarrsaal das Essen serviert, kommen darf jeder, der dafür mindestens einen Euro bezahlt. Wer kann, gibt mehr, und viele tun es. Das Projekt läuft seit fast 15 Jahren, und heuer stand es (nach internen Querelen, die ich als „Neuer“ noch nicht einmal ansatzweise verstehe) kurzzeitig vor dem Aus. Ich habe mich — als bekennender „Ketzer“ — sehr für die Fortsetzung eingesetzt. Nach einer verlängerten Sommerpause ist es nun wieder gestartet. Wer mehr wissen will, kann das im Pfarrbrief nachlesen. Wer mitmachen will, kann sich auf der Internetseite der Pfarrei schlau machen. Das Projekt hat auch für mich persönlich einen Vorteil: Es führt mich hin und wieder zu Schulungen nach Landsberg, zu Rational.
In die Lechstadt, in der ich fast 20 Jahre die Redaktion der Tageszeitung leitete, komme ich noch immer gerne. Meist zusammen mit dem Familienmitglied, das unser Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Enzo, Co-Autor dieses Blogs und französische Bulldogge, die Anfang November ein Jahr alt geworden ist, begleitet mich quasi auf Schritt und Tritt — nach Landsberg an den Lech und auf den Hauptplatz, ins Piemont in meine Herzensheimat La Morra, in Augsburg zu Treffen der Società Dante Alighieri, bei der ich Mitglied geworden bin, oder zu den Sitzungen des Fördervereins der Volkshochschule Augsburg, dessen Vorsitz ich übernommen habe, oder der Augsburger Akademie.
Allen, die sich vor dem Ruhestand fürchten, kann ich nur eines raten: Leute, kauft euch einen Hund! Nichts wirkt so friedlich und beruhigend wie der Hund, der (auch jetzt gerade) vor mir auf dem Boden liegt und mich bei Schreiben beobachtet. Nichts hält so aktiv und nichts fördert die Einhaltung des täglichen 10.000-Schritte-Solls so sehr wie die zum Teil unmissverständliche Aufforderung zum Gassigehen auch bei Sauwetter. Nichts lässt einen das stinklangweilige und triviale Fernsehprogramm leichter vergessen als die Tatsache, dass Enzo mit auf der Couch liegt und Krauleinheiten einfordert. Nichts begleitet einen so friedlich in den Schlaf wie das dezente Schnarchen des Bullys auf dem Bettvorleger im Schlafzimmer. Nichts hält einen besser zum defensiven Autofahren an als der Hund, der die Fahrt in den Urlaub oder zum Einkauf auf dem Rücksitz begleitet.
Enzo wird heute auch mit uns meinen Zweit-Geburtstag feiern. Ein schönes Essen, ein guter Wein — und für ihn sicher auch ein paar Leckerli! Mehr — das habe ich gelernt — braucht man nicht.

Bildergalerie: Fotos aus fünf geschenkten Jahren


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Kommentare: 1
  • #1

    Micha (Samstag, 01 Dezember 2018)

    Toll geschrieben! Um diese Kunst beneide ich dich immer wieder! Alles Gute, lieber Dieter!