Die permissive Gesellschaft
Auch Tage nach den entsetzlichen Szenen in der Augsburger Prachtstraße beherrschen die Krawalle in der Maximilianstraße die Diskussionen. Wo immer Nachbarn, Bekannte oder Wildfremde zusammenstehen in dieser Stadt – die bürgerkriegsartigen Ausschreitungen, die am vergangenen Sonntag zur gewaltsamen Räumung der Feierzone führten, geben das Thema vor. Unverständnis, Entsetzen, der Ruf nach harten Konsequenzen für die Täter und immer wieder die Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ stehen im Mittelpunkt des Interesses der Augsburger. Wie konnte es dazu kommen? Dieser Frage möchte ich nachgehen – und komme dabei zu Schlüssen, die alles andere als beruhigend sind und die wahrscheinlich Widerspruch herausfordern werden.
In den Gesprächen mit Augsburgern, in Medienberichten und Social-Media-Beiträgen gibt es Erklärungsversuche. „Einige wenige“ seien auf Krawall aus gewesen, heißt es. Ausländergruppen hätten gezielt den Konflikt gesucht, vermuten einige. Sinnloser Alkoholkonsum habe die Hemmschwellen gesenkt, behaupten andere. „Frust“ nach langem Corona-Lockdown wird als Ursache ausgemacht. Diese Erklärungsversuche haben alle etwas Logisches, sind aber trotzdem zu kurz gegriffen. Die wahren Gründe liegen woanders: In einem Versagen (oder der umfassenden Abwesenheit) von Erziehung über eine lange, lange Zeit.
Versuchen wir eine Spurensuche:
Keine Gesellschaft funktioniert ohne Regeln, darüber dürfte wohl Einigkeit bestehen. Und keine Regel funktioniert, wenn sie nicht überwacht wird, und Verstöße gegen sie nicht sanktioniert werden. Nehmen wir ein Beispiel: Warum fährt ein Autofahrer im Stadtgebiet mit 50 km/h, auch wenn sein Bolide theoretisch die Schallmauer durchbrechen könnte? Warum hält er an einer roten Ampel an, obwohl ihn weit und breit kein anderes Fahrzeug in Gefahr bringen könnte? Weil er weiß, dass Kontrolle stattfindet. Dass er anhand seiner Autonummer schnell identifiziert werden kann. Und weil er weiß, dass er bei einem Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen wird und die Konsequenzen zu tragen hat.
Warum funktioniert dies zum Beispiel bei Radfahrern nicht? Zum einen, weil sie keine Nummer führen müssen, die sie identifizierbar machen würde. Und weil sie gesellschaftlich als „die Guten“ gelten, bei denen man über Regelverstöße gerne mal hinwegsieht. Radeln auf dem Gehweg, auch wenn sich Fußgänger dadurch gefährdet fühlen – ist doch schnuppe: Man ist schließlich umweltfreundlich unterwegs. Radeln auf der falschen Fahrbahnseite – ach, sollen halt die anderen ein bisschen auf mich aufpassen.
Das Problem besteht nicht im Regelverstoß an sich. Sondern darin, dass der Regelverstoß gesellschaftlich akzeptiert wird. Er wird ja von den „Guten“ begangen. Da schaut dann auch schon mal der Polizist weg, der – würde er einen Autofahrer das Gleiche tun sehen – das Blaulicht einschalten, den Verkehrssünder dingfest machen und sanktionieren würde. Warum er das beim Radler nicht macht? Weil er dafür kaum positives Feedback bekommen würde.
Natürlich sind die genannten Beispiele Lappalien. Sie sind aber Teil eines Systems der permissiven Gesellschaft, die dazu führt, dass sich jeder seine Regeln selbst macht. Und zwar die, die ihm gerade am besten passen oder die gesellschaftlich akzeptiert sind. Die Suche nach Entschuldigungen wird dem „Sünder“ dabei sogar noch von den Institutionen abgenommen. Steht ein (jugendlicher) Täter heutzutage vor Gericht, bemühen sich staatlich alimentierte Profis darum, Ausflüchte für seine Tat zu finden und deren Folgen für ihn zu minimieren. Kein Wunder, dass die Vertreter der Exekutive, die Straftäter der Jurisdiktion zuführen sollen, von den Delinquenten als saft- und kraftlose Hanswurste wahrgenommen werden, die man nicht ernst nehmen muss: „All cops are bastards“ ist dann halt mehr als ein dahingebrüllter Slogan. Es ist Ausdruck einer Lebenseinstellung.
Das Zurechtbiegen von Regeln nach persönlichen Bedürfnissen wird den Jungen ja auch ständig vorgelebt. Da meldet der Papa den Nachwuchs eine Woche vor Schulschluss schon mal wahrheitswidrig krank, damit der Familienurlaub eine Woche früher (und damit zu einem für das Familienbudget schonenderen Tarif) angetreten werden kann. Geht dann eine staatliche Institution her und sanktioniert solche Verstöße, kann sie sicher sein, mediale Ohrfeigen zu kassieren.
Daran krankt das System: Dass feste Regeln, so sie denn überhaupt aufgestellt werden, nicht überwacht und nicht durchgesetzt werden. Dass Regelverstöße nicht schnell und konsequent sanktioniert werden – im Kleinen ebenso wie bei so skandalösen Auswüchsen wie denen in der Augsburger Maxstraße.
Die Stadt Augsburg hat dankenswerterweise nach den Krawallen vom Wochenende Konsequenzen gezogen: Einschränkung des To-go-Verkaufs von Alkoholika, Zugangskontrollen zur Maximilianstraße, die ja schon seit Jahren von der Prachtstraße zu einer Besäufniszone heruntergekommen ist, Aufstockung des Ordnungsdienstes. Die Zukunft – und die erstreckt sich nicht nur auf ein paar Wochen – wird zeigen, ob diese Maßnahmen nicht nur verkündet, sondern auch konsequent vollzogen und Verstöße geahndet werden.
Falls nicht, wird der hier übliche Schlusssatz zu einer apokalyptischen Prophezeiung für unsere Stadtgesellschaft:
Fortsetzung folgt.
Kommentar schreiben