Auferstanden aus Ruinen
Das hätte ich mir nun auch nicht vorstellen können: Dass ich einmal ein Buch von Sahra Wagenknecht kaufen, lesen und gut finden würde. Aber tatsächlich finde ich es gut, weswegen hier auch eine Besprechung mit einigen Zitaten zu lesen ist. Und tatsächlich muss ich nach erfolgter Lektüre sagen: Wäre die gute Frau nicht Mitglied der Partei, der sie nun mal angehört, und stünde sie im Wahlkreis, in dem ich bei der Bundestagswahl abstimme, zur Wahl – meine Stimme hätte sie.
Aber erst mal der Reihe nach. Mitte April 2021 hat Wagenknecht ihr Buch „Die Selbstgerechten“ veröffentlicht, das alsbald zu Diskussionen führte. Die Autorin, die als „Linke“ schon immer polarisiert hatte, polarisierte diesmal die Linken. Oder, wie das Handelsblatt schrieb: Sahra Wagenknecht zeigt, wie sich die „Lifestyle-Linke“ zu Tode siegt.
Da nämlich macht Wagenknecht feine, aber bedeutende Unterschiede: „Genau besehen ist die so bezeichnete Strömung nämlich weder links noch liberal, sondern widerspricht in Kernfragen beiden politischen Richtungen. Ein wichtiger Anspruch jedes Liberalismus etwa ist Toleranz im Umgang mit anderen Meinungen. Den typischen Linksliberalen dagegen zeichnet gerade das Gegenteil aus: äußerste Intoleranz gegenüber jedem, der seine Sicht der Dinge nicht teilt. Auch kämpft der Liberalismus traditionell für rechtliche Gleichheit, der Linksliberalismus dagegen für Quoten und Diversity, also für die ungleiche Behandlung unterschiedlicher Gruppen." An die Stelle demokratischen Meinungsstreits sind ihrer Meinung nach emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten: „Das ist beängstigend.“ Die Linke Wagenknecht befindet sich da in einer zunächst merkwürdigen Übereinstimmung mit dem früheren Moskauer Focus-Korrespondenten Boris Reitschuster, der in seinem Blog einmal schrieb, er habe im Russland Putins seine Meinung oft offener sagen können als im politisch korrekten, bundesrepublikanischen Hier und Jetzt.
Unerwartete Positionen vertritt Wagenknecht auch zum Thema Einwanderung und deren Folgen. Zitat: „Die Mehrheit ist auch durchaus bereit, Flüchtlingen und Verfolgten zu helfen. Sie möchte allerdings nicht mit immer mehr Zuwanderern um Arbeitsplätze und Wohnungen konkurrieren und sie ist auch nicht einverstanden, wenn sich der eigene Lebensraum bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sie will niemandem vorschreiben, an welchen Gott er glaubt. Aber sie hat große Einwände, wenn sich unter dem Deckmantel der Toleranz in ihrem Land eine religiöse Strömung ausbreitet, deren ausdrückliches Ziel es ist, den Hass auf ihre Lebensweise und ihre Kultur zu schüren. Wagenknecht kommt zu überraschenden Schlussfolgerungen: „In Wahrheit ist es also ein billiger Taschenspielertrick, mit dem der Linksliberalismus seinen »rechten Zeitgeist« hervorzaubert, gegen den er dann seine Kulturkämpfe führt. Er misst »rechts« einfach nicht mehr an den Merkmalen, die rechtes Denken traditionell definiert haben: Abwertung von Menschen anderer Hautfarbe, Hass auf Minderheiten, Ablehnung der Demokratie, nationale Überlegenheitsgefühle oder die Unterstützung von Sozialdarwinismus und großer Ungleichheit. Stattdessen erklärt er Positionen, die große Teile der Bevölkerung, vor allem Nicht-Akademiker, vertreten und die früher auch in sozialdemokratischen Parteien selbstverständlich waren, für rechte Positionen. Und – simsalabim – da ist er, der rechte Zeitgeist, die große Gefahr für unsere Demokratie, gegen die jetzt alle Demokraten zusammenstehen müssen.“ Insofern trügen die linksliberalen Kulturkämpfe zur Spaltung und Polarisierung unserer Gesellschaft mindestens in gleichem Maße bei wie die Hetzreden der Rechten.
Hart ins Gericht geht Wagenknecht auch mit den so genannten Klimaschützern von „Fridays for Future": „Auch in diesem Fall ist es nicht so, dass der Mehrheit die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen plötzlich gleichgültig wäre. Aber sie reagiert allergisch, wenn sie das Gefühl bekommt, dass der Klimawandel nur ein Alibi ist, um ihr Heizöl, ihren Strom und ihren Sprit noch teurer zu machen. Auch ist sie es leid, von privilegierten Zeitgenossen für ihren Lebensstil – ihre Diesel-Autos, ihre Ölheizung oder ihr Aldi-Schnitzel – moralisch deklassiert zu werden.“ Doch genau das sei passiert. Was sich auch in der Corona-Debatte gezeigt habe: „Wenn die Gefahr das eigene Leben betrifft, verändern sich Einstellungen besonders schnell und besonders radikal. Corona hat es in extremer Form bestätigt: Eine Gesellschaft in Angst ist keine liberale Gesellschaft.“
Trotz dieser Entwicklungen sieht Wagenknecht, die wegen ihrer Thesen alsbald von der bundesdeutschen Linken massiv angefeindet wurde, keinen Ruck nach Rechts in unserer Gesellschaft: „Bisher gibt es in den meisten Ländern der westlichen Welt keinen rechten Zeitgeist und auch keinen gesellschaftlichen Rechtstrend. Was es gibt, ist ein politischer Rechtstrend, der darin besteht, dass rechte Parteien stärker und einflussreicher werden. Dieser Rechtstrend ist nicht harmlos und alles andere als ungefährlich.“ Denn „solange die politische Linke keine glaubwürdige progressive Erzählung und kein überzeugendes politisches Programm anbietet, das nicht nur die wachsende Zahl weniger wohlhabender Akademiker anspricht, sondern auch den sozialen Interessen und Wertvorstellungen der Arbeiter, der Servicebeschäftigten und auch der traditionellen Mitte entgegenkommt, werden immer mehr Menschen aus diesen Schichten sich entweder von der Politik abwenden oder auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine neue Heimat suchen. Und irgendwann wird zumindest ein Teil von ihnen beginnen, auch so zu sprechen und zu denken, wie auf dieser Seite gesprochen und gedacht wird. Wem die Verrohung der Diskurse Angst macht und wer den Rechtstrend tatsächlich umkehren will, der muss aufhören, allein um die Lufthoheit über den Seminartischen zu kämpfen.“
Wagenknecht wäre nicht Wagenknecht, würde sie nicht Wege aus der von ihr aufgezeigten Fortschrittsfalle benennen: An die Stelle demokratischen Meinungsstreits seien emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten.“ Das sei beängstigend. Eine Lösung sieht sie in einer „Ergänzung“ der repräsentativen Demokratie: erstens durch Institutionen direkter Demokratie und zweitens durch eine zweite Kammer mit Debatten- und Vetorecht, die auf Grundlage des Losverfahrens aus normalen Bürgerinnen und Bürgern gebildet wird: „Partizipative Demokratie wird in einigen Ländern seit Langem erfolgreich praktiziert. Die Schweiz kann hier durchaus ein Vorbild sein. Aber auch in anderen Ländern, etwa in Irland, ist es gängige Praxis, dass zentrale Fragen für die Zukunft des Landes und das Leben der Menschen direkt von der Bevölkerung entschieden werden. Das sollten wir in Deutschland in Zukunft auch so handhaben.“ Ziel müsse es sein, dass ein eigenständiger, starker, handlungsfähiger öffentlicher Sektor wiederhergestellt werde: „Es ergibt keinen Sinn, über die großen Linien der Politik demokratisch zu verhandeln, wenn die öffentlichen Institutionen nicht mehr dazu in der Lage sind, solche Strategien am Ende auch umzusetzen. Unzählige Beispiele aus Geschichte und Gegenwart belegen, dass Staaten äußerst effiziente Institutionen zur Gestaltung großer Veränderungen und zur Realisierung grundlegender Modernisierungsprogramme sein können. Die westlichen Demokratien müssen diese Fähigkeit zurückgewinnen.“
Wagenknechts Buch ist – verglichen mit den Verkaufszahlen ähnlicher politisch-theoretischer Werke – nahezu ein Bestseller. Man darf also annehmen (und sogar hoffen), dass über ihre Thesen zukünftig weiter gesprochen wird.
Fortsetzung folgt.
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Karlheinz Kretschmer (Dienstag, 29 Juni 2021 13:38)
Alles gesagt, was bei uns in der Schräglage ist. Gefällt mir sehr. LG kk
Livia (Mittwoch, 30 Juni 2021 20:34)
Wagenknecht - eine sehr intelligente Frau- denkt. Konsequentiell, spricht und schreibt sie sinnvolle Sachen. Werde mir überlegen, ob ich sie wähle, nachdem ziemlich viele andere Parteien unwählbar sind....