Staatsversagen mit Ansage
„Einen weiteren Lockdown wird es nicht geben.“ So orakelte Karl Lauterbach – damals SPD-Gesundheitsexperte, jetzt designierter Gesundheitsminister – laut ZDF am 3. Juni 2021. Top, die Wette gilt: Er wird kommen, dieser längst überfällige Lockdown. Vielleicht werden gewitzte Politikstrategen mit einer neuen verschleiernden Wortschöpfung zur Hochform auflaufen. Aber wir werden wieder zusperren.
Für Teile des öffentlichen Lebens gilt das jetzt schon: Clubs und Diskotheken zum Beispiel, für die Gastronomie ab 22 Uhr. Und die „Vierte Welle“ brandet noch immer an die Strände, an denen Ampel-Koalitionäre fröhlich Nabelschau betreiben, um Posten schachern und Fundi-Realo-Intrigen spinnen. „Staatsversagen“ titelt das seit der Bundestagswahl nicht als übermäßig regierungskritisch aufgefallene Magazin stern in Ausgabe 48. Vielsagend, möchte man werten.
Vor allem, wenn man auf die bisherigen Aktivitäten der neuen Regierenden in einem Land schaut, das einmal zu den führenden Industrienationen gehörte, und das es nun nicht einmal mehr fertig bringt, seine Bürger vor Tod und Siechtum effektiv zu schützen. Schon ist Impfstoff wieder knapp oder zumindest nicht zeitnah lieferbar. Und die Coronatests, zu denen Berlin die Bürger bei immer mehr Aktivitäten verpflichtete, sind auch schon teilweise ausverkauft. Testtermine gibt es vielerorts nur bei Anmeldung ein paar Tage vorher oder nach stundenlangem Schlangestehen ohne Termin.
Die neue rot-gelb-grüne Regierung, die es ja nun in der Hand hätte, das Zaudern der letzten Merkel-Tage zu beenden, schaffte ja noch nicht einmal einen Anlauf zu einer allgemeinen Impfpflicht, die allein das Land aus der Abwärtsspirale herausbringen könnte. Das Herumeiern des designierten Kanzlers Olaf Scholz um die Impffrage auf der Pressekonferenz nach den Koalitionsverhandlungen hatte fast schon kabarettistische Züge – und ist doch nicht zum Lachen in einem Staat, in dem die Inzidenzen durch die Decke gehen, schon wieder Impfstoff knapp ist, Impfkapazität fehlt , Intensivstationen aus den Nähten platzen und mit dem Tode ringende Intensivpatienten in MEDEVAC-Flugzeugen der Bundeswehr quer durch die Republik zu den letzten noch freien Intensivbetten geflogen werden.
SPD, Grüne und FDP haben bereits vor Ablauf der 100 Tage, die man den „Neuen“ üblicherweise einzuräumen pflegt, schon viel an Kredit bei ihren einstigen Wählern verspielt: Laut einer aktuellen, repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey glauben lediglich 44 Prozent der Befragten, dass die Ampel-Koalition inhaltlich und personell für einen politischen Aufbruch steht. 41 Prozent sehen das nicht so, 15 Prozent sind unentschieden.
Während im Süden Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nach strengeren Corona-Auflagen verlangt (aber eine Impfpflicht ebenfalls zu scheuen scheint wie der Teufel das Weihwasser), üben sich in Berlin die Grünen in altbekannten Grabenkämpfen zwischen Fundis und Realos, denen als erstes Anton Hofreither zugunsten von Cem Özdemir zum Opfer fiel. Bezeichnend ist ein Foto vom Parteitag der Grünen, bei dem Robert Habeck dicht neben Annalena Baerbock sitzt – und zum gerade abgewatschten Hofreiter eine Lücke von mehreren unbesetzten Stühlen klafft...
Wie lange Baerbock und Habeck noch ein so inniges Verhältnis pflegen werden, erscheint allerdings fraglich. Denn auch Baerbock ging nicht ungeschoren aus den Nachwahlintrigen hervor. Sie darf zwar als Außenministerin dilettieren (die sogenannten sozialen Medien quellen schon über mit sarkastischen Posts, die neben vielem anderen „Kobold“-Versprecher, „Netz-als-Speicher“-Aussage und Moskau-Dienstreisen mit dem Fahrrad zum Thema haben), zur Position der Vizekanzlerin – traditionell aus dem Außenressort besetzt – reichte es aber nicht: Hier darf nun Habeck ran.
Erste Kratzer hat auch das Image von SPD-Wahlsieger Scholz davongetragen. Nicht nur, dass in der Bevölkerung sein Herumeiern in der Frage der Impfpflicht wenig goutiert wird. Auch innerparteilich werden vom linken Flügel der Partei schon die Klingen gewetzt: Mit der neuen Parteispitze, Saskia Esken und Lars Klingbeil, wird der eher dem konservativen Flügel zuzurechnende Scholz sicher noch viel Freude haben. Einzig der FDP-Ampelmann Christian Lindner hat sich bisher noch keine gravierenden Schnitzer geleistet und scheint die Koalition zeitweilig sogar zu dominieren. Für die Einführung einer Impfpflicht gegen Corona scheint die aber auch nicht zu reichen.
Dabei wäre die Impfpflicht das einzige Mittel, denn: „Offensichtlich hat die Politik noch nicht verstanden, dass mit all diesen Maßnahmen [Testen, Lockdown, Kontaktbeschränkungen; Anm. d. Verf.] keine Infektion verhindert, keine Krankheit abgemildert und kein Tod vermieden wird. Das schafft nur die Impfung", sagt Dr. Roger Hillert, Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie in Görlitz in einem beachtenswerten Interview.
Doch die bundesdeutsche Politik handelt weiter nach dem Motto „Die Lösung darf nicht weniger komplex sein als das Problem.“ und wurstelt sich weiter durch die Pandemie. Zielführend wären nur zwei Maßnahmen: Ein sofortiger radikaler Lockdown, um die medizinische Versorgung nicht zusammenbrechen zu lassen. Und eine Impfpflicht (die es schon viel früher und viel massiver gab als jetzt auch nur gedacht wird).
Kommt beides nicht, und müssen weiter mehr Menschen sterben als unumgänglich, wäre bald nicht mehr die Pandemie die Katastrophe, sondern das Staatsversagen, das hier zum Vorschein kommt. Und Corona würde zu einem Horrorfilm in Dauerschleife, wie in diesem Video von Mai Thi Nguyen-Kim eindrucksvoll dargestellt wird.
Fortsetzung folgt.
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Bernd Zitzelsberger (Montag, 29 November 2021 14:57)
Sehr gut und treffend geschrieben, Herr Mitulla! Und leider: Offensichtlich bzw. scheinbar wahr, von den guten ironischen Anteilen einmal abgesehen.
Lotta (Montag, 29 November 2021 21:28)
Hallo Enzo, da hat Dein Herrchen mal wieder den Pfeil ins Schwarze gesetzt.
Der Text wird einigen Leuten nicht gefallen - muss er auch nicht. Weiter so!!!
Liebe Grüße - Lotta