Kulinarik

Handwerk und Hightech = Genuss

Benjamin Mitschele (hinten ganz links) und sein Team. (Foto: Daniel Biskup)
Benjamin Mitschele (hinten ganz links) und sein Team. (Foto: Daniel Biskup)

Das Paradies ist 19 Quadratmeter groß. Es ist heiß dort. Sehr heiß. Und es wird hart gearbeitet – schnell, konzentriert, präzise, kreativ. Das Paradies ist eine Küche, die Küche von Benjamin Mitschele. Im März 2022 erhielt sein Restaurant „Alte Liebe“ einen der begehrten Sterne des Gourmetführers Guide Michelin. Mitschele ist damit nach Simon Lang („Sartory“) und Christian Grünwald („August“) der dritte besternte Küchenchef in Augsburg und der leibhaftige Beweis für den Spruch: „Menschen mit Talent müssen keinen Anzug tragen. Eine Kochjacke reicht vollkommen  aus.“

Wir treffen uns zum Gespräch an einem sonnigen Herbstvormittag im (noch) leeren Lokal an der Alpenstraße und sprechen erst einmal über – Nudeln in Schinken-Sahne-Sauce. Das hat nun mal so gar nichts von Sterneküche, ist aber dennoch ein zentrales Thema im Gespräch mit dem 39-Jährigen, weil dieses Gericht Mitscheles erstes kulinarisches Erfolgserlebnis war. Da war er zwölf, kam mit einem Schulfreund hungrig nach Hause und fand erst mal nichts zu essen vor. Die Freunde beschlossen, es solle die besagten Nudeln geben, Benjamin machte sich ans Werk und „keiner wusste, wie's geht, aber es hat toll geschmeckt. Anfängerglück eben“, erzählt Mitschele und muss noch heute, viele Jahre später, lachen.

Irgendwie war der Teller so eine Art kulinarisches Erweckungserlebnis: Mitschele machte zwar die Schule fertig und studierte „Digitaler Film“, doch der Gedanke an eine Kochlaufbahn hatte sich in seinem Kopf eingenistet. Irgendwann klapperte er dann die guten Restaurants in Augsburg persönlich ab und fragte nach einem Ausbildungsplatz. Im Magnolia im Glaspalast hatte er nach einigen Absagen dann Glück: Küchenchef Thorsten Ludwig bot ihm einen Probemonat an, „und danach haben sie mich genommen.“

Nach der Lehre folgten weitere Stationen in der Region – bei Nico Trautz im Golfclub Burgwalden, als Küchenleiter im Liliom in Augsburg. Und dann kam Berlin und Mitscheles erstes Engagement in einer Sterneküche, bei Thomas Kammeier im Hugo's im Interconti Hotel. Da habe er natürlich viel gelernt, sagt Mitschele, aber auch den Wunsch entwickelt, in einem nachhaltigen Restaurant zu arbeiten. Der ging für ihn im Scent in Erfüllung: „Das war maßgebend für meinen weiteren Weg.“ In dem zu einem Hotel in Berlin-Mitte gehörigen Betrieb wurde damals schon mit regionalen und bio-zertifizierten Lebensmitteln aus der legendären Markthalle 9 und nach den Regeln der Slowfood-Bewegung gekocht. 

Bistroküche immer mehr verfeinert

Irgendwann zog es Mitschele aber doch zurück in seine Augsburger Heimat. Das war die Geburtsstunde der ersten Alten Liebe. In der Ludwigstraße bot Mitschele in seinem Lokal Bistroküche an, die er immer weiter verfeinerte. „Ich wollte raus aus dem Mechanismus, immer günstig anbieten zu müssen und dafür das Günstigste zu kaufen.“ Deswegen baute er ein kleines Netzwerk guter Lieferanten auf: „Wir haben in Augsburg und Umgebung tolle Produkte.“

Der Umzug an den jetzigen Standort im Bismarckviertel war da nur folgerichtig. Mitschele empfindet seine Koch-Laufbahn als „work in progress“ – alles ist immer in Fortentwicklung, alles wird immer wieder neu überdacht: „Kochen ist für mich total emotional. Da offenbart man was von sich.“ Und genau das spiegelt die Speisekarte in der Alten Liebe wider: den Küchenchef, der biologisch, ressourcenschonend, nachhaltig produzieren will, ohne in den drögen Bratling-Einheitsgeschmack à la  Bioladen-Imbiss zu versinken.

Die Saison gibt’s vor

Aber wie macht man das? Wie stellt der Sternekoch seine Gerichte, seine Menüs zusammen? „Die Saison gibt’s vor“, sagt Mitschele: „Die erzählt einem, was man gerade verarbeiten kann.“ Dazu kommt dann, „worauf ich selbst grade Lust habe“, Inspirationen von Gerichten, die er auf Reisen kosten durfte und – ganz wichtig – „Inspiration aus dem Team“. Da werden Ideen eingebracht, dann probegekocht, verändert, angepasst – und irgendwann „steht“ das Gericht. Das wiederum muss natürlich auch in ein Menü eingebaut werden. Wenn also beispielsweise Kürbis in einem Gang vorkommt, dann wird er in anderen Gängen des Menüs nicht ein zweites Mal  verwendet. Und: Nicht jede eingeplante Zutat ist immer verfügbar. Auch dann müssen Gänge angepasst werden: „Das Ganze läuft nach dem Motto ,work in progress', sagt Mitschele. Und auch, wenn er selbst das letzte Wort bei der Menüzusammenstellung hat, so steckt doch in jedem Teller das Knowhow des ganzen Teams. 

Dem gehören neben Mitschele fünf weitere Köche an: Souschef Stefan Wagner, der auch den Patissier gibt, Chef de partie Friedemann Reinmuth, Commis de cuisine Christoph Kubic und die beiden Auszubildenden Madeleine Vogele und Annekathrin Beck („Gottseidank zwei Frauen!“).

Prollereien in der Küche duldet der Chef nicht

Die beiden seien wichtig für das Arbeitsklima in der Küche. In der Gastronomie herrsche oft ein rauher, machomäßiger Umgangston, aber: „Prollereien in der Küche dulde ich nicht“, sagt Mitschele. Er hat (und pflegt) in seinem Laden familiäre Strukturen, eine klare, aber flache Hierarchie, Wertschätzung und Offenheit bei Reibungen: „Das ist sehr, sehr wichtig.“ Auch die in vielen Gastronomiebetrieben notorische Rivalität zwischen Küche und Service stößt bei dem Sternekoch auf Ablehnung: „Mitarbeiter brauchen Frei- und Entwicklungsräume“, sagt er. Und wenn sie diese nutzen könnten, entstehe fürs Ganze ein Mehrwert. Wie das Beispiel seines Sommeliers zeigt: Peter Karl wurde erst vor Kurzem vom Gourmetführer Gusto zum „Sommelier des Jahres“ gekürt. Wobei eine Rolle gespielt haben dürfte, dass in der Alten Liebe auch das Getränkeangebot in Richtung Regionalität und Nachhaltigkeit tendiert. Neben den Weinen zeigt sich das auch bei den anderen Getränken, etwa dem „Alte Liebe Hell“-Bier aus der Craft-Brauerei Frau Gruber oder bei regionalen Schnäpsen.

Auf das Prinzip, Zutaten möglichst aus der Umgebung zu beziehen, möchte Mitschele in Zukunft noch viel stärker setzen. Seit diesem Jahr sind seine Frau Ines und er daher auch Inhaber einer kleinen „Vielfaltgärtnerei“ im Augsburger Stadtteil  Oberhausen. Gartenbauingenieurin Ines, die  Erfahrung in Bio- und Demeter-zertifizierten Betrieben sammelte, bewirtschaftet dort 3500 Quadratmeter Fläche, ein Gewächshaus mit 250 Quadratmetern und ein kleines Anzuchthaus. Es sei zwar nicht einfach, die beiden Betriebe zu synchronisieren, aber „gefühlt sind wir ja erst am Anfang“, so Mitschele. Immerhin verkaufen sie Gärtnereiprodukte auch schon an andere Gastronomen, etwa ans nahegelegene Café Viktor. Und sie verarbeiten ihre eigenen Gemüse und Kräuter „zur Saisonverlängerung“, wie Mitschele sagt, zu allerlei Vorprodukten – durch Einwecken, Fermentieren, Konservieren oder Trocknen.

 

Was Mitschele bei allem Sendungsbewusstsein so sympathisch macht, ist sein Pragmatismus. Regionalität ja – aber nicht um jeden Preis. Austern beispielsweise („Ich liebe Austern“) sind halt nun mal nicht aus regionaler Produktion zu bekommen. Trotzdem stehen sie in der Alten Liebe regelmäßig auf der Speisekarte. 

Ähnliches gilt für Küchengeräte. Natürlich dominiert in der Gourmetküche das Handwerk. Davon zeugt zum Beispiel die Hefezucht für die (täglich frisch gebackenen) Sauerteigbrote. Oder der klassische Holzkohlegrill. Aber Hightech kommt garantiert nicht zu kurz. 

So stehen in der Alten Liebe natürlich auch ein Thermomix (über dessen Nutzen sich die Gourmetgemeinde erbittert streitet), ein Pacojet (der gefrorene Lebensmittel verarbeitet), zwei Rational-Kombidämpfer (einer sogar aus dem Internet fernsteuerbar) und (ein Traum für jeden Koch) ein Vitamix, der, gepowert von zwei PS, mit seinen ultrascharfen Rotationsmessern Pürees von unübertroffener Seidigkeit herzustellen vermag. 

Dass eine raffinierte, ausgeklügelte Speisenauswahl wie die der Alten Liebe nicht in einer 35-Stunden-Woche herzustellen ist, leuchtet ein. Aber auch dafür hat Mitschele ein eigenes Konzept: Gearbeitet wird in einer Vier-Tage-Woche, wobei mittwochs und donnerstags „nur“ einzelne Gerichte à la carte serviert werden. Am Freitag- und Samstagabend kommt dagegen ausschließlich ein (auf Wunsch auch vegetarisches) Menü auf die Tische. Zum Festpreis von 140 Euro gibt es mehrere zentrale Gänge, von Brot, Butter, Amuse-gueules, Snacks und Petits Fours ergänzt bzw. umrahmt, in dem schlicht, aber stylisch eingerichteten Lokal.

Das ist von jeher, aber seit der Michelin-Auszeichnung noch viel mehr, immer gut besucht. Mitschele macht sich daher auch keine Sorgen über die Zukunft, auch wenn in der Gastronomie nach Corona und angesichts von Ukrainekrise, Energieknappheit und galoppierender Inflation  vielfach über sinkende Gästezahlen und Konsumzurückhaltung geklagt wird. Der Sternekoch  glaubt, dass sich die Gastro noch mehr als bisher auseinanderentwickeln wird – in reine „Versorgungsbetriebe“ und in solche, in denen  Genuss und kulinarische Perfektion das Maß der Dinge sind. Der Mittelbau werde es schwer haben in Zukunft – auch angesichts des Fachkräftemangels, der jetzt schon die Branche trifft: „Es wird sich immer mehr trennen in Gut oder Günstig.“

„Wir sind kein Wirtshaus. Wir sind ein Gasthaus.“

Mitschele hat davor keine Angst: Gastronomie sei  ein fordernder Beruf, den man nur machen könne, wenn man dafür brennt. Gastfreundschaft, das „Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein“, sei etwas Großartiges: „Es ist allein der Gast, der zählt. Wir sind in der Pflicht, die Leute mit Gastfreundschaft zu überschütten.“ Und dann sagt er, am Ende des Interviews, einen Satz, der in Stein gemeißelt eigentlich über der Eingangstüre zur Alten Liebe stehen müsste: „Wir sind kein Wirtshaus. Wir sind ein Gasthaus.“


 

 

 

 

 

Diese Gastro-Kolumne ist in dem vierteljährlich herausgegebenen Regionalmagazin edition:schwaben erschienen. Das vorliegende Heft wird erstmals von Daniel Biskup und Christian Hutter verantwortet, wie wir hier bereits berichtet haben.

 

In der aktuellen Ausgabe der Hochwert-Publikation sind unter anderem ein Porträt der Äbtissin von Oberschönenfeld, Gertrud Pesch, sowie eine augenöffnende Fotoreportage über die Suche schwäbischer Firmen nach Fachpersonal enthalten.

Weitere Themen sind ein Feature über die Marketingagentur „Any Agency“, ein Bericht über das Gipfeltreffen der schwäbischen Theaterintendanten sowie eine neue Folge des ökoreport:schwaben, der sich diesmal mit dem Wintertourismus beschäftigt.

 

edition:schwaben ist nur im Abonnement (mit vier Ausgaben plus einem Themen-Sonderheft pro Jahr zum Preis von 40 Euro) erhältlich.

 

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